„Der Odenwald – Eine Landes- und Volkskunde“
von Georg Volk, 1900
„Als hervorstechende geistige Eigenschaften des Odenwälders lassen sich hervorheben:
Fröhlichkeit und Munterkeit, Treue, Gastfreundschaft, Biedersinn und Gefälligkeit. Ein gewisser Grad von Schlauheit leuchtet überall hervor, daneben läuft ein ebenso hoher Grad von Misstrauen gegen diejenigen nebenher, die ihn aus seinem gewohnten Geleise heraus führen wollen.
Der echte Odenwälder glaub nur dem, der seit Jahren bewiesen hat, dass er streng wahrheitsliebend ist. In seinem Handwerk und bei seinem Ackerbau hält er am Alten fest, bis durch mehrjährige Ergebnisse nachgewiesen wird, dass das neue tatsächlich besser ist als das alte. Dann folgt er schnell. Versuche und Proben macht er nicht. Dafür stehen Fleiß und Arbeitsamkeit in hohen Ehren!
Ebenso konservativ ist der Odenwälder auch in Bezug auf Politik und Religion. Dem Konventikelwesen und der Sektiererei ist er abholt, er hängt fest an seinem überkommenen Glauben und er ist ein fleißiger Kirchenbesucher, wenn auch jetzt weniger als früher. In Kirchdörfern, wo der alte gute Geist noch herrscht, ist es Brauch und Sitte, dass sämtliche Mitglieder eine Familie sonntags die Kirche besuchen. Auf den Geistlichen hält der Odenwälder große Stücke. Besonders dann, wenn der Seelsorger an seinem Wohl und Wehe innerlichen Anteil nimmt auch etwas von Land und Gartenwirtschaft und Viehzucht versteht oder doch Interesse dafür zeigt. Von den Geistlichen und Beamten verlangt der Odenwälder außer tüchtigen Leistungen im Dienste persönliche Achtung, eine über große Herablassung ist ebenso so wieder wie Dünkel und Hochmut. Die religiöse Gesinnung erscheint im Odenwald als Niederschlag in vielen Sitten und Anschauungen.
Kay Vonderlage als Hochwürden
Das Brot wird heilig geachtet; man nimmt es den Städtern äußerst übel,wenn sie auf ihren Spaziergängen durch Wälder und Felder ihre Speiseüberreste, besonders aber Brotbrocken, von sich werfen. Sammlet die übrigen Brocken, daß nichts umkomme, heißt es jedem Hause, und wenn jemand zufällig auf ein Krümchen tritt, entschuldigt er sich wegen seines Versehens. Denn – wer das Brot nicht achtet und ehrt, ist seiner nicht wert, kann man in vielen Häusern im Odenwald hören.
Allerdings – die fortschreitende industrielle Entwicklung verschafft auch der Sozialdemokratie unter den Lohnarbeitern immer größeren Anhang. Unkeusches Leben widerspricht den Grundsätzen der Odenwälder. In den fünfziger des 19. Jahrhunderts Jahren kam es vor, daß ein Pfarrer von der Kanzel seinem tiefsten Bedauern darüber Ausdruck verlieh, daß in seiner Gemeinde, 1500 Seelen, ein uneheliches Kind geboren wurde, ein Fall, der seit Jahren nicht mehr eingetreten war. Gegenwärtig, und besonders seit der Zeit, wo die Mädchen häufiger in städtische Dienststellen gehen, ist es etwas anders geworden.
Trozdem hält man auf Zucht und Ordnung. Wer sich mit der Ehefrau eines andern einläßt, muß nach seinem Tode spuken, wärowern und feurig gehen. Einer Bauerntochter, die sich vergeht, streut man Häcksel oder steckt ihr auf einer langen Bohnenstange einen Korb ohne Boden vor das Haus. Nur in einigen wenigen Dörfern, die sich durch großen Wohlstand auszeichnen, denkt man darüber anders; dort bekommen die Bäuerinnen ein, höchstens zwei Kinder, die übrigen bekommen die Dienstmägde.
Der Odenwälder ist ehrlich. Ohne Bedenken läßt der Bauer des Nachts Thor und Thüre offen stehen; niemand wird ihm aus seiner Hofraite etwas entwenden.
Nur mit den Wald und Feldfreveln wird es weniger genau genommen. Dem Walde ein Stämmchen zu einer Deichsel, einer Längwied, einem Beilshelm zu entnehmen, ist nach der Volksmeinung kein Diebstahl. Der Wald war ehedem Gemeingut, an dessen Nuhnießung jeder ein Recht hatte, und die Erinnerung an längst entschwundenen Zustände lebt heute noch im Volke fort. Aus diesem Grunde betrachten unsere Landsleute auch das Wildern, das jetzt überhaupt seltener wird, nur als ein Vergehen gegen das geschriebene Gesetz, keineswegs aber als ein moralisches Verschulden.
Der Odenwalder ist fleißig und thätig von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang. Die meisten lassen aber überhaupt nur ihre bäuerliche Tätigkeit als rechte Arbeit gelten. Wenn ein begabter Bauerniunge sich einem geistigen Berufe zuwenden will, so muß er sich von Verwandten und Bekannten oft sagen lassen, er ginge der Arbeit aus dem Weg. Bäuerinnen, die keine groben Arbeiten verrichten, gelten für, müßig und müssen sich sagen lassen: Di haft es gut, di hast Hände wie eine Kindbetterin. Fleiß und Arbeitsamkeit stehen eben in hohen Ehren! Aber wir können nicht schließen, ohne eines Charakterzuges zu gedenken, der beim Odenwälder besonders stark entwickelt ist: die Wanderlust!
Während die Leute in dem verkehrsreicheren nördlichen Teile des Odenwaldes, an der Bergstraße und im Neckarthale allzeit zum Reden und Scherzen aufgelegt sind, sind die Bewohner, besonders in den Walddörfern zurückhaltender, ernster und schweigsamer. Auch auswärts behalten die Odenwälder vielfach ihr wortkarges Wesen.
Der Fremde muß sich ihr Zutrauen erst durch ein besonders zuthunliches und umgängliches Wesen gewinnen, dann erst werden sie mitteilsamer, und es läßt sich beobachten, daß sie im Besitze von lebendigem Mutterwitz, Schalkheit und Humor sind. Doch ist ihnen auch die Veranlagung zu beißender Satire, die sich namentlich in zahlreichen Ortsneckereien kundgiebt, fast allgemein eigen – und es ist gewiß beachtenswert, daß der größte deutsche Satiriker, Georg Christoph Lichtenberg, dem Odenwalde entstammt …“